Sie strich noch eine Schicht Kleber auf die Tapete. Dann entfernte sie den Überfluss und befestigte sie vorsichtig an der Wand. Sie nahm sie den Schaber und strich die paar entstandenen Falten heraus. Sie wollte grade den nächsten Tapetenstreifen holen, als ihr Fuss gegen etwas stiess. Sie fluchte laut, sie hatte ihr Wasserglas, das auf dem Boden stand, umgestossen. Niko, erschien im Türrahmen. «Ist alles okay? Geht es dir gut?», sein Gesicht wirkte besorgt.
Sie zwang sich zu einem kleinen Lächeln und nickte leicht: «Ja alles gut». Er verschwand und kam kurz später mit einem Lappen in der Hand zurück. Sie wischte das Wasser auf und nahm das Glas: «Ich sollte wohl lieber mal kochen gehen». Mit diesen Worten floh sie aus dem Zimmer, bevor Niko etwas sagen konnte.
In der Küche angekommen stellte sie das Glas auf der Spüle ab und stützte sich auf ihre Hände. So etwas sollte ihr nicht passieren, sie sollte sich nicht so vor Niko verhalten. Er war noch jung und sie sollte für ihn da sein. Ihre Hände zitterten immer noch leicht, als sie Wasser in einen Topf füllte und ihn auf dem Herd abstellte. Dann füllte sie langsam Boullion hinein und klemmte eine Klammer an den Rand des Topfs, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. Ihr Vater, der jetzt im Krankenhaus lag, von dem man nicht wusste, ob er sich je wieder erholen würde. Er hatte einen Schlaganfall erlitten und sie, sie war am anderen Ende der Welt. Sie schluckte schwer, tat sie wirklich das Richtige? Sie war so stolz auf sich selbst gewesen, als sie es geschafft hatte ein Stipendium für ein Auslandsjahr in Australien zu bekommen, doch nun wurde ihr klar, was es bedeuten konnte so weit von zuhause weg zu sein. Langsam kochte das Wasser und sie gab den Reis hinzu. Bis jetzt hatte sie sich hier sehr wohl gefühlt, ihre Gastfamilie war toll, besonders Niko, den sie schon längst als ihren eigenen Bruder sah. Auch ihre Schule war spannend und sie genoss das Wetter. Doch konnte sie wirklich hierbleiben, sich an all diesen Dingen erfreuen, wenn sie zuhause gebraucht wurde. Wie es ihrer Mutter wohl ging? Sie war immer froh gewesen, wenn sie ihr mit ihren zwei jüngeren Schwestern half und jetzt musste sie allein einkaufen, das Haus sauber halten und auf die Kleinen aufpassen. Und sie war sich sicher, dass ihre Mutter krank vor Sorge um ihren Vater war, vermutlich besuchte sie ihn jeden Tag. Sie seufzte tief.
Plötzlich hörte sie Schritte und Niko erschien in der Küche, er lächelte leicht, konnte aber die Sorge in seinen Augen nicht verstecken. Er stellte sich neben sie und sah ihr etwas beim Umrühren im Topf um. «Kann ich dir irgendwie helfen?», sie wusste, dass es nichts bringen würde ihn wegzuschicken und so gab sie ihm etwas Gemüse, damit er es kleinschneiden konnte.
So standen sie für eine Weile nebeneinander und schnitten Paprika, Zucchini und Tomaten in Stücke. Irgendwann durchbrach Nikos Stimme die Stille: «Willst du mir nicht sagen was los ist?»
Sie dachte ein paar Momente nach: «Oh es ist nichts, es gibt zuhause nur ein paar…Komplikationen», nach einer kurzen Pause ergänzte sie, «nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest». Niko antwortete nicht, sie nahm an, dass er bloss nachdachte, doch als er länger nichts von sich gab, drehte sie sich zu ihm und zu ihrer Überraschung hatte er seine Lippen fest zusammengepresst und schnitt seine Tomate aggressiv. «Habe ich etwas falsches gesagt?», sie hatte ihr Messer abgelegt und drehte sich komplett zu ihm. Er sah nicht auf und zerstückelte weiter seine Tomate.
Nach einer kurzen Stille sagte er kurz angebunden: «Nein, alles gut, es ist nichts weisst du». Sie war hilflos verwirrt, was er damit meine, es war doch offensichtlich etwas los.
«Du wirkst aber…», sie konnte ihren Satz nicht beenden, da fiel er ihr ins Wort, «oh weisst du bei mir ist genauso nichts wie bei dir, denkst du ernsthaft ich merke nicht, dass dich etwas bedrückt? Oder willst du es mir nicht sagen?». Sie öffnete ihren Mund, wollte etwas erwidern, wusste aber nicht was. Doch bevor sie richtig nachdenken wollte, ergriff er noch mal das Wort: «Ach so, ich vergass, ich bin ja viel zu jung und zu unerfahren, um dir zu helfen. Ich muss ja immer beschützt werden und wirklich etwas tun könnte ich ja sicher auch nicht». Seine Worte überraschten sie, sie klangen so bitter. Sie nahm ihr Messer wieder in ihre Hand und griff nach einer neuen Zucchini, die sie begann in Scheiben zu schneiden.
«Mein Vater hatte einen Schlaganfall…er liegt im Krankenhaus», sie atmete tief ein. Niko war ganz still geworden und hörte ihr aufmerksam zu. Und so erzählte sie ihm von all den Sorgen, die sie sich machte, und von den Zweifeln, ob sie wirklich das richtige tat. Als sie endete, hatte sie Tränen in den Augen.
Für ein paar Minuten lag eine bedächtige Stille über ihnen. «Aber du wolltest hierher, du hast dir sehr viel Mühe gegeben, um zu uns kommen zu können. Warum sollte es dann nicht das Richtige sein?»
Tausend Gedanken kamen ihr in den Sinn: «Meine Familie braucht meine Unterstützung, ich war immer mit für die anderen da, ich war für Mama immer eine wichtige Hilfe!» Sie find an nervös auf ihrer Unterlippe herumzukauen: «Vielleicht sollte ich einfach nach Hause fahren, so schnell wie möglich…» Niko neben ihr schien in Gedanken versunken, sie nahm das geschnittene Gemüse und warf es zum Reis in den Topf.
Sie setzte den Deckel grade wieder darauf, als er anfing zu sprechen: «Also ich war noch nie in einer solchen Situation wie du jetzt, aber…deine Mutter hat doch auch ihr Leben vor dir irgendwie hinbekommen. Ich weiss nicht, aber meiner Meinung nach…ist es doch deine Entscheidung, was du mit deinem Leben machst. Du wirst in einem Jahr 18, du hast schon etwas Ahnung im Leben und…ich weiss noch, als wir zusammen eine Deckenburg gebaut haben, da hast du mir erzählt, dass es ein Traum von dir ist die Welt zu erkunden. Wenn du das möchtest, dann solltest du das doch auch können!» Niko wirkte wie ein kleines, schmollendes Kind, als er das so sagte, trotzdem lösten die Worte in ihr etwas aus. Sie dachte nach, ihre Familie brauchte sie, doch er hatte recht. Sie wollte auch etwas im Leben, unabhängig von ihrer Familie. Sie war so sehr in Gedanken versunken, dass sie die Zeit komplett vergass und unschön aus ihren Gedanken gerissen wurde, als das Essen überkochte und sie es schnell von Herd ziehen musste. Dann drehte sie sich zu Niko und nahm ihn so fest sie konnte in den Arm. Sie war so froh ihn zu haben und murmelte ein leises Danke in seine Haare. Dann richtete sie sich wieder auf, verteilte das gekochte Essen auf ihre Teller und trug sie ins Esszimmer.
Also sie sich wieder umdrehte stand Niko in der Tür: «Wirst du mich jetzt verlassen?», es entging ihr nicht wie seine Stimme leicht zitterte und wie seine Hand etwas zu fest den Türrahmen umklammerte.
Sie richtete sich auf und lächelte: «Ich weiss es noch nicht, aber jetzt essen wir erstmal, dann werde ich mit deinen und meinen Eltern reden und schauen, ob wir eine Lösung finden.»